Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt
Wir vergleichen uns gerne mit anderen und schließen dabei meist schlechter ab. Dabei übersehen wir unsere Stärken und was uns so einzigartig macht. Auch dem Bäumlein, das andere Blätter haben wollte, erging es nicht anders:
Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald
in gutem und schlechtem Wetter.
Das hat von unten bis oben
nur Nadeln gehabt statt Blätter.
Die Nadeln, die haben gestochen,
das Bäumlein, das hat gesprochen:
„Alle meine Kameraden
haben schöne Blätter an,
und ich habe nur Nadeln,
niemand rührt mich an.
Dürft’ ich wünschen, wie ich wollt’,
wünscht’ ich mir Blätter von lauter Gold.”
Wie’s Nacht ist, schläft das Bäumlein ein,
und früh ist’s aufgewacht.
Da hatt’ es goldene Blätter fein,
das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: „Nun bin ich stolz.
Goldene Blätter hat kein Baum im Holz.”
Aber wie es Abend ward,
ging der Bauer* durch den Wald
mit großem Sack und großem Bart.
Der sieht die goldnen Blätter bald.
Er steckt sie ein, geht eilends fort
und lässt das leere Bäumlein dort.
Das Bäumlein spricht mit Grämen:
„Die goldnen Blättlein dauern mich,
ich muss vor den andern mich schämen,
sie tragen so schönes Laub an sich.
Dürft’ ich mir wünschen noch etwas,
so wünscht’ ich mir Blätter von hellem Glas.”
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
und früh ist’s wieder aufgewacht.
Da hatt’ es glasene Blätter fein.
Das war eine Pracht!
Das Bäumchen sprach: „Nun bin ich froh.
Kein Baum im Walde glitzert so.”
Da kam ein großer Wirbelwind
mit einem argen Wetter.
Der fährt durch alle Bäume geschwind
und kommt an die gläsernen Blätter.
Da lagen die Blätter von Glase
zerbrochen in dem Grase.
Das Bäumlein spricht mit Trauern:
„Mein Glas liegt in dem Staub.
Die anderen Bäume dauern
mit ihrem grünen Laub.
Wenn ich mir noch was wünschen soll,
wünsch’ ich mir grüne Blätter wohl.”
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
und wieder früh ist’s aufgewacht.
Da hatt’ es grüne Blätter fein.
Das Bäumlein lacht
und spricht: „Nun hab’ ich doch Blätter auch.
Dass ich mich nicht zu schämen brauch.”
Da kommt mit vollem Euter
die alte Geis gesprungen.
Sie sucht sich Gras und Kräuter
für ihre Jungen.
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel,
sie frisst es ab mit Stumpf und Stiel.
Da war das Bäumchen wieder leer,
es sprach nun zu sich selber:
„Ich begehre nun keine Blätter mehr,
weder grüner, noch roter, noch gelber!
Hätt’ ich nur meine Nadeln,
ich wollte sie nicht tadeln.”
Und traurig schlief das Bäumlein ein,
und traurig ist es aufgewacht.
Da besieht es sich im Sonnenschein
und lacht und lacht!
Alle Bäume lachen’s aus.
Das Bäumlein macht sich aber nichts daraus.
Warum hat’s Bäumlein denn gelacht,
und warum denn seine Kameraden?
Es hat bekommen in der Nacht
wieder alle seine Nadeln,
dass jedermann es sehen kann.
Geh’ ‘naus, sieh’s selbst, doch rühr’s nicht an!
Warum denn nicht?
Weil’s sticht.
Friedrich Rückert, dt. Dichter, 1788-1866
*In der Ursprungsversion von Friedrich Rückert wird statt „Bauer“ der Begriff „Jud” angeführt. Dies veranlasste in der 1960er Jahren jüdische Organisationen zu einer Beschwerde gegen den Abdruck des Gedichtes in einem Märchen- und Gedichtbuch. In heutigen Ausgaben wird „Jude“ meist durch „Räuber“ oder „Bauer“ ersetzt.
Es hat bekommen in der Nacht, wieder alle seine Nadeln …
Also ich habe bisher alle Geschichten toll gefunden und kaum etwas gekannt, und das freut mich sehr.
Dass sich jemand soviel Arbeit macht und das alles zum Lesen frei gibt, finde ich einfach nur toll, und lese es meist vor dem Schlafengehen und wache mit immer besserer Stimmung auf.
Wenn ich das alles lese, dann frage ich mich manchmal, mit was ich mich eigentlich all die Jahre beschäftigt habe. Ich wusste gar nicht, dass es so viele schöne Geschichten gibt.
Danke!
Freut mich, dass Ihnen meine Sammlung gefällt. Weiterhin viel Freude beim Schmökern. Ich werde die Sammlung auch weiterhin ergänzen.
Wunderbar! Diese Geschichte hat mir meine Mutter hunderte Male erzählt, und ich wollte sie immer wieder hören! Welch eine Freude, sie hier wiederzufinden! Danke!