Die Aufrichtigkeit begegnet der Lüge
Aufrichtigkeit ist eine wertvolle Tugend – keine Frage. Aber manchmal ist eine Lüge oder ein Schweigen der Aufrichtigkeit vorzuziehen. Dazu heute eine Geschichte von Marie von Ebner-Eschenbach, die mir sehr gut gefällt:
Eines Tages schritt die Aufrichtigkeit durch die Welt und war sehr stolz auf sich:
„Was bin ich doch für eine beneidenswerte Person. Ich unterscheide zwischen gut und schlecht, ich mache niemandem etwas vor!“
Da begegnete die Aufrichtigkeit der Lüge. Sie war gekleidet in schillernden Gewändern und ihr folgten mehrere Personen. Mit Ekel und Entrüstung wandte sich die Aufrichtigkeit ab.
Die Lüge ging süßlich lächelnd weiter. Die Letzten ihres Gefolges aber, ein kleines, schwächliches Volk mit Kindergesichtchen, schlichen demütig und schüchtern vorbei und neigten sich bis zur Erde vor der Aufrichtigkeit.
„Wer seid ihr denn?”, fragte sie.
Eines nach dem anderen antwortete: „Ich bin die Lüge aus Rücksicht.”
„Ich bin die Lüge aus Pietät.”
„Ich bin die Lüge aus Barmherzigkeit.”
„Ich bin die Lüge aus Liebe”, sprach die vierte.
„Und diese Kleinsten von uns sind das Schweigen aus Höflichkeit, das Schweigen aus Respekt und das Schweigen aus Mitleid.”
Da schämte sich die Aufrichtigkeit und plötzlich kam sie sich doch etwas plump und brutal vor.
Marie von Ebner-Eschenbach, österr. Schriftstellerin, 1830 – 1916
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