Selbstverständlichkeiten
Kinder können über so manches staunen, das uns Erwachsene nicht (mehr) berührt – weil wir eben bereits vieles kennen und deshalb nicht mehr näher betrachten oder hinterfragen. Und damit verlieren wir oft den Blick auf das Schöne und das Wunderbare, das uns täglich umgibt. Passend dazu diese Geschichte aus meinem ZEITBLÜTEN-Buch (Herder-Verlag):
Ein Mann sitzt mit seinem 17-jährigen Sohn im Zug. Mit großen Augen schaut der junge Mann aus dem Fenster und fragt:
„Papa, ist das eine Kuh?“ Der Vater lächelt und antwortet: „Ja, mein Sohn.“ Aufgeregt spricht der Junge weiter: „Papa, diese Blume ist eine Sonnenblume, oder?“ Die Antwort lautet wieder: „Ja, mein Sohn.“
„Papa, diese Blume ist eine Sonnenblume, oder?“
Viele weitere Fragen folgen: „Papa, ist das ein Lastwagen? … eine Tanne? … ein Hubschrauber? … ein hoher Berg …?“ Stets folgt dieselbe Antwort:
„Ja, mein Sohn.“
Zwischendurch zeigt der Vater in eine Richtung und sagt: „Schau, mein Sohn, der Vogel ist ein Bussard, dieser Baum ist eine Eiche und dort ist ein Rapsfeld …“
Ein Fahrgast, der den beiden gegenübersitzt, spricht den Vater nach einer Weile an:
„Bei allem Respekt, das Verhalten Ihres Sohnes ist doch sehr merkwürdig.“ Gespreizt weist er ihn darauf hin, dass es heutzutage doch sehr gute Kliniken für Fälle „wie diesen“ gäbe und die Medizin in alle Richtungen große Fortschritte mache.
Der Vater unterbricht ihn:
„Wie recht Sie doch haben!“, ruft er und fährt freundlich fort: „Von solch einer Fachklinik kommen wir gerade. Mein Sohn hat vor zwölf Jahren sein Augenlicht verloren und kann seit wenigen Tagen wieder sehen.“
Sichtlich beschämt senkt der Mann den Blick. Nach einer Weile wendet er sich dem Jungen zu:
„Junger Mann, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“ Und nach einer Pause sagt er noch: „Und ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Sie haben mir eben aufgezeigt, dass ich vieles Wertvolle im Leben gar nicht mehr wahrnehme, weil ich es für selbstverständlich gehalten habe.“
© Gisela Rieger
Zum Weiterlesen: Achtsamkeitsübungen für Kinder
Diese Geschichte stammt aus meinem Buch „ZEITBLÜTEN – Wege zu Wohlfühlmomenten“ (Herder-Verlag).
Erhältlich im Buchladen, online über die verschiedenen Buchhandlungen – z. B. hier direkt beim Herder-Verlag, beim sozialen Buchhändler buch7.de (der Anteile der Einnahmen an soziale, ökologische oder kulturelle Projekte spendet) – oder über Amazon.
Das Wertvolle im Leben bewusst wahrnehmen
Wahrscheinlich geht es vielen von uns so wie dem Mann in der obigen Geschichte: Wir nehmen das Wertvolle in unserem Leben nicht mehr bewusst wahr, weil es für uns zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Aber wie dem entgegenwirken? Hierzu zwei Übungen
1. Praktizieren Sie eine Dankbarkeitswoche
Beginnen Sie mit einer Dankbarkeitswoche:
Wenn Sie abends im Bett liegen, zählen Sie in Gedanken mindestens 5 Dinge oder Vorkommnisse auf, für die Sie an diesem Tag dankbar sind. Wem auch immer Sie dafür danken möchten – das bleibt Ihnen überlassen.
Diese Anzahl ist bewusst gewählt, denn eine einzelne Begebenheit zu nennen, fällt nicht sonderlich schwer, eine zweite meistens auch nicht. Für Weiteres müssen Sie dann schon etwas mehr überlegen, und das ist gut. Denn erst dadurch werden Sie sich auch auf Kleinigkeiten besinnen, die sich oft erst auf den zweiten Blick als wertvoll und dankenswert erweisen.
Zudem fördert diese Dankbarkeitsübung am Abend die innere Ruhe und bremst das Gedankenkarussell sowie die Grübelei aufgrund bestimmter Vorkommnisse, die Sie nicht einschlafen lassen.
Ein Nebeneffekt dieser Übung:
Dadurch, dass Sie am Abend über Positives nachdenken, das Sie während des Tages erlebt haben, wird sich auch Ihr Fokus die nächsten Tage ändern.
Sie werden feststellen, dass Ihr Augenmerk viel mehr auf Dinge ausgerichtet wird, für die Sie dankbar sein können – einfach deshalb, weil Sie im Hinterkopf haben, dass Sie abends wieder 5 dieser Dinge aufzählen wollen.
Schon nach einer Woche werden Sie automatisch mehr auf Schönes und Positives achten. Sie werden vielleicht erstaunt sein, dass es davon doch reichlich in Ihrem Leben gibt.
2. Führen Sie ein Dankbarkeitsjournal
Oder ein Dankbarkeitstagebuch. Das Schreiben bewirkt eine intensivere Auseinandersetzung als die rein gedankliche. Also anstatt, wie in der vorigen Übung beschrieben, Dankenswertes in Gedanken durchzugehen, schreiben Sie es beispielsweise in ein hierfür angelegtes Notizbuch.
Legen Sie bei der Auswahl Wert auf eines, das Sie anspricht und sich gut anfühlt und das Sie gerne in die Hand nehmen.
Oder notieren Sie in Ihrem Kalender an dem jeweiligen Tag einfach in Stichworten, wofür Sie heute dankbar sind.
Und wenn Sie die digitale Variante bevorzugen: Mittlerweile gibt es einige Apps, mit denen Sie ein Dankbarkeitsjournal beispielsweise auf Ihrem Smartphone führen können.
Eine weitere Möglichkeit:
Die meisten von uns haben ein Smartphone ständig bei sich. Jedes Gerät hat eine Kamera integriert, mit der sich Bilder in oft bestechender Qualität schnell und einfach machen lassen.
Jedes Mal, wenn Sie während des Tages etwas Dankenswertes erblicken, halten Sie es mit der Kamera fest. Ein digitales Dankbarkeitsalbum, das Ihr Herz erwärmt.
Wenn Sie sich dann die Bilder ansehen, erinnern Sie sich an diese freudvollen Momente. Probieren Sie das Ganze mindesten eine Woche lang aus. Bei Gefallen können Sie es beliebig lang fortführen.
… was für eine wunderbare Geschichte und sie entspricht genau unserem Alltag – also dem Alltag von den meisten Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, um leben zu können… und in ihrer Freizeit dann auch diese Dinge sehen… die schönen Dinge im Leben sehen… nicht mehr wahrnehmen… leider.
… und die ganz Anderen, die soviel Geld besitzen, um sich mit Luxus und vielem BlingBling zu umgeben, denen sind solche einfachen und bedeutenden Momente fremd… wie gesagt, nicht Allen, aber doch sehr vielen…
Schön, diese Erinnerung an die als so selbstverständlich hingenommenen Sinne – sehen, wahrnehmen und achtsam sein…
Das ist eine wirklich gute Geschichte. Man sollte nur die Moral ändern: “Das Wertvolle für selbstverständlich halten”, wie banal. Aber: dem Standpunkt und Startpunkt des Anderen mit Umsicht und Verständnis begegnen, das ist es!
Sich über die Mitmenschen echauffieren, ist immer einfach. Selten fragt man vorher, mit welchen Umständen derjenige zu tun hat, ob das, was bei uns für Kopfschütteln sorgt, für ihn nicht schon ein großer Schritt in die richtige Richtung war oder der einzig mögliche Schritt. Das richtig zu sehen, ist Weisheit.