Ein Stau zur richtigen Zeit
Wie wertvoll es ist, miteinander Zeit zu verbringen, wird uns oft erst dann bewusst, wenn dies nicht mehr möglich ist – aus welchen Gründen auch immer. Ein chinesisches Sprichwort bringt es auf den Punkt:
Dazu eine passende Geschichte:
Ein Stau zur richtigen Zeit
Vor wenigen Stunden verließ Stefan die Firma, nachdem er wieder einmal einen wichtigen Auftrag erfolgreich abgeschlossen hatte. Sein Chef bedankte sich mit lobenden Worten und verabschiedete ihn. Zeitgleich drückte er ihm wieder einen Stapel neuer dringender Akten als Urlaubslektüre in die Hand!
Seine Familie war schon vor Tagen zu ihrem Ferienhaus abgereist. Da er sich wieder einmal nicht sicher war, ob und wann er sich von der Arbeit freimachen konnte, versprach er schnellstmöglich nachzukommen.
Stefan stand mit seinem Auto im Urlaubsstau. Um die Wartezeit der endlosen Blockabfertigung sinnvoll zu nützen, besah er sogleich seine neuen Akten.
Plötzlich landete ein bunter Ball auf seinen Unterlagen. Entschuldigend stand eine Mutter vor seinem Wagen und erklärte, dass ihre Kinder so aufgedreht seien, da sie sich so freuten, dass ihr Vater sich kurzfristig entschlossen hatte, sich von seiner Arbeit loszureißen, um gemeinsam mit ihnen in den Urlaub fahren zu können.
Stefan gab ihr den Ball zurück und sah die glücklichen Augen dieser Frau und hörte das vergnügte Lachen der Kinder.
Als der Verkehr wieder anrollte, hatte er plötzlich das Gefühl, dass er umzingelt von Familien war, die alle gemeinsam in den Urlaub fuhren. Dabei dachte er an seine beiden Kinder. Thomas ist schon acht Jahre alt und Eva kommt nach den Ferien in die Schule.
Wann hatte er das letzte Mal richtig Zeit mit seinen Kindern verbracht? Als seine Tochter geboren wurde, war er beruflich im Ausland, bei der Einschulung seines Sohnes war er in einem wichtigen Meeting. So stand seine Arbeit immer im Vordergrund und seine Kinder hatten es längst aufgegeben ihn zu fragen, ob er Zeit für sie hätte.
Der Verkehr stand wieder still. Er wollte gerade wieder zu seinen Unterlagen greifen, da schien er die Stimme seiner Frau zu hören: »Kannst du nicht einmal ohne Akten nach Hause kommen?«
Er fragte sich, wann er ihr das letzte Mal Blumen geschenkt hatte? Wann waren sie ohne Kunden beim Essen oder im Theater gewesen? Ja, und wann hatte er ihr das letzte Mal gesagt, wie sehr er sie liebt?
Stefan wurde plötzlich unruhig. Ja, wann hatte er das letzte Mal über sich selbst und das Leben nachgedacht? Er deponierte kurzerhand seinen Aktenkoffer in den Kofferraum. Sein Leben reflektierend, vergingen die vielen Stunden im Stau wie im Flug!
Am Ziel angekommen, schaffte er es gerade noch, bevor die Läden zumachten, für seine Frau einen riesigen Strauß Blumen zu besorgen.
Erstmalig baute er mit seinen Kindern gewaltige Sandburgen, sie spielten Fußball, Boccia, Federball und lachten viel gemeinsam. Abends saß er lange gemütlich mit seiner Frau bei einem Glas Wein auf der Terrasse.
Alles was Stefan für sich im Stau erkannt hatte, setzte er umgehend um. So teilte er auch seinem Chef mit, dass er künftig mehr »dringende Meetings« mit seiner Familie hätte.
Es wurde ein wunderschöner, erholsamer Urlaub, dem noch viele weitere folgten.
Noch Jahre später, immer wenn sie in einem Stau standen, sagte Stefan stets: »Schau, schau ein Stau!«. Seine Frau, die um den Hintergrund dieser Worte wusste, drückte jedes Mal glücklich seine Hand.
© Gisela Rieger
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Gisela. Die Geschichte stammt aus ihrem Buch „Inspirationen für’s Herz“.
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