Der kleine weiße Esel

Wer mit sich unzufrieden ist, richtet seinen Fokus stets auf persönliche Unzulänglichkeiten. Wir werden von anderen aber nicht geliebt, weil wir etwas besonders gut können, auf einem bestimmten Gebiet perfekt sind oder etwas Materielles besitzen. Wir werden geliebt, weil wir so sind, wie wir sind.

Wie wichtig es ist, sich selbst annehmen zu können, will uns auch diese Geschichte sagen:

Es war einmal ein kleiner grauer Esel, der sich den ganzen Sommer lang auf der Weide vergnügte. Seine Mutter war eine sehr angesehene und hübsche Eselin.

Als der Winter seine ersten Zeichen setzte und dicke Schneeflocken vom Himmel herabfielen, war das Eselein verzückt von der weißen Farbe, die sein Fell bedeckte.

Ab diesem Tag beklagte sich der kleine Esel bei seiner Mutter, dass er kein graues Geschöpf mehr sein wolle, sondern so weiß wie der Schnee. Die Eselin erklärte ihrem Sohn, dass nun mal alle Esel grau wären. Er sei sogar ein ganz besonders hübscher grauer Esel.

Doch den kleinen Esel konnten die Worte seiner Mutter nicht trösten und er fühlte sich gar nicht verstanden.

Eines Tages zur Mittagszeit kam er an einer alten Mühle vorbei. Der Müller lag im tiefen Schlaf versunken auf der Wiese. Da nützte der neugierige Esel die Gelegenheit, um sich in der Mühle umzusehen. Er entdeckte das viele weiße Mehl und wälzte sich darin, ohne lange zu überlegen.

Über sein weißes Spiegelbild im Fensterglas war er so entzückt, dass er überglücklich davonsprang.

Die Freude des kleinen Esels dauerte jedoch nicht lange an, denn ein heftiger Regenschauer brach herab, sodass seine ursprüngliche Farbe bald wieder zum Vorschein kam.

Kurze Zeit später sah der Esel einen Maler auf der Leiter, welcher ein Haus mit weißer Farbe tünchte. Der Kleine rannte auf den Eimer zu, der am Boden stand, gab diesem mit seinen Hufen einen Tritt und wälzte sich vergnügt in der weißen Farbe. Bis der Maler laut fluchend von der Leiter herunterkam, war der weiße Esel längst über alle Berge.

Nun endlich war der kleine Esel von ganzem Herzen froh.

Als Erstes besuchte er seinen Freund, das Lämmchen, um diesem seine weiße Pracht zu zeigen. Doch dort wurde er zuerst gar nicht erkannt und hinterher nur ausgelacht. »Du bist nur ein dummes Schaf und neidisch auf mich!«, rief das Grautier und machte sich auf den Weg zu seinem besten Freund, dem Zicklein.

Dieses warf sich vor Lachen auf den Boden und konnte gar nicht mehr einhalten. »Was bist du nur für eine blöde Ziege!«, sprach das Eselein und lief weiter.

Doch auch beim Kälbchen, beim Pony und bei all seinen Freunden erging es ihm nicht anders.

Betrübt, mit hängendem Kopf, ging er nach Hause. Da schrie ihn seine Mutter an: »Was willst du hier? Verschwinde aus meinem Stall!« Kleinlaut entgegnete das Eselein: »Aber Mama, ich bin es doch, dein Sohn.«

Doch diese rief weiter: »Du Lügner, mach, dass du fortkommst, du bist nicht mein Sohn. Dieser ist das wunderbarste Eselskind, das die Welt je gesehen hat, und du bist nichts weiter als ein lächerliches Geschöpf!«

Da trottete das Eselein zum See und betrachtete sich im Spiegel des Wassers. Plötzlich fühlte es sich in seinem gefärbten Fell nicht mehr wohl und stieg in das kühle Nass, um mit viel Mühe und Not seine weiße Farbe wieder abzuwaschen. Stunden später kehrte es halb erfroren in seinem gewohnten Grau in den warmen Stall zurück.

Freudig wurde das Eselskind von seiner Mutter begrüßt: »Da bist du ja endlich, mein Kind. Was für ein hübscher Junge du nur bist und was du nur für ein dichtes, glänzendes Fell hast!«

Der Esel begann zu niesen und schmiegte sich ganz eng an seine Mama.

Von diesem Tag an wollte er nie wieder jemand anders sein als nur er selbst!

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Der Eseljunge schmiegte sich an seine Mutter und wollte nie wieder jemand anders sein …

© Gisela Rieger

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Gisela. Die Geschichte stammt aus ihrem Buch „Geschichten, die dein Herz berühren“.

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